Das Versprechen klingt großartig: „Diabetesremission kann digital verabreicht werden, was erlaubt, sie für die breite Masse zu skalieren, jenseits der Grenzen von kontrollierten Studien“, schlussfolgern die Autoren einer aktuellen Studie.

Nun sind allzu erwartungsfrohe Ausblicke von Forschern nichts Ungewöhnliches, sei es aus Begeisterung für die eigene Arbeit oder um weitere Fördergelder zu rechtfertigen. Doch die besagte Arbeit wurde immerhin so prominent vorgestellt wie in der Diabetologie möglich: auf dem ADA-Kongress in New Orleans, im Rahmen der von der Fachgesellschaft selbst organisierten Pressekonferenzen. Was also steckt dahinter?

Dr. Paramesh Shamanna und Kollegen aus Indien und Kalifornien untersuchten in einer randomisierten, kontrollierten Studie den Effekt einer „Twin Precision Treatment“ (TPT) genannten Intervention im Vergleich mit Standardtherapie bei insgesamt 319 Patienten mit Typ-2-Diabetes; in der als Late-Breaking-Poster 4-LB auf dem Kongress Anfang Juni präsentierten Interimsanalyse waren 262 Patienten inbegriffen, zu denen Daten über 180 Tage zur Verfügung standen, 199 aus der Interventions- und 63 aus der Kontrollgruppe.

Digitaler Zwilling integriert rund 3.000 Datenpunkte täglich

Die Teilnehmer in der TPT-Gruppe verwendeten eine Whole Body Digital Twin genannte Technologieplattform, in der mittels künstlicher Intelligenz und dem „Internet der Dinge“ verschiedenste Daten zusammengeführt und ausgewertet werden, um präzise Empfehlungen über eine App und Coaches zu geben. Neben dem großen Feld der Ernährung bezogen sich diese Gesundheitsempfehlungen auch auf Aktivität, Schlaf und sogar auf die Atmung. Die Daten und Empfehlungen stehen auf Wunsch auch dem behandelnden Arzt zur Verfügung.

Bei dem „digitalen Körperzwilling“ handelt es sich um ein prädiktives Modell, das Patienten und ihren Behandlern Empfehlungen auf Basis von Tausenden von Datenpunkten gibt, die täglich nicht invasiv über sogenannte Wearables gesammelt werden und die ein personalisiertes Spiegelbild des jeweiligen individuellen Metabolismus geben sollen. Wearables können Sensoren sein, die in Smartwatches, anderen Fitnesstrackern oder Waagen verbaut sind und über die verschiedenen technischen Möglichkeiten in das Internet beziehungsweise ein Datennetzwerk Informationen übermitteln. Aber auch ein CGM-System trugen die Teilnehmer in der TPT-Gruppe. In einer Oral Presentation (26-OR) auf dem Kongress sprach Dr. Shashank Joshi von insgesamt 174 Gesundheitsmarkern und rund 3.000 Datenpunkten täglich, die von dem Algorithmus für den „digitalen Zwilling“ ausgewertet werden.
84 Prozent in Remission nach einem halben Jahr

Primärer Endpunkt der an vier FDA-zugelassenen Zentren in Indien durchgeführten Studie waren die Veränderungen bei HbA1c und Remission des Typ-2-Diabetes in Intervallen von 90 Tagen. Weiterhin wurden verschiedene sekundäre Endpunkte analysiert.

Das Durchschnittsalter aller 319 Studienteilnehmer lag bei 45 Jahren, die Diabetesdauer im Mittel bei 3,9 Jahren. Das Ausgangs-HbA1c der Teilnehmer lag im Durchschnitt bei 9,0 Prozent.

94,9 Prozent der Teilnehmer des TPT-Arms wiesen in der Interimsanalyse nach 180 Tagen ein HbA1c unter 6,5 Prozent ohne antidiabetische Medikation oder nur mit Metformin auf. 83,9 Prozent der Teilnehmer dieser Gruppe erreichten eine Diabetesremission nach den Kriterien der ADA. Dabei handelt es sich nach Angaben der Fachgesellschaft um die bisher höchste Rate an Diabetesremission, die je berichtet worden wäre. Nach Definition der ADA ist von Remission die Rede, wenn die Blutzuckerwerte ohne Diabetesmedikamente für mindestens drei Monate im normalen HbA1c-Bereich unter 6,5 Prozent liegen.

Alle neun Teilnehmer im Interventions-Arm, die zu Studienbeginn Insulin verwendeten, setzten es bereits vor dem 90. Tag der Studie ab.

Drastische HbA1c-Senkung

Bei den Teilnehmern mit der Intervention sank das HbA1c nach 180 Tagen im Mittel von 9,0 auf 5,7 Prozent, die HbA1c-Veränderung von -3,3 Prozent zeigte einen signifikanten Unterschied zu den -0,39 Prozent mit Standardtherapie. So sank der Nüchternblutzucker von im Mittel 170,2 auf 95,9 mg/dL, während er in der Kontrollgruppe mit 159,8 respektive 155,0 mg/dL auf ähnlichem Niveau blieb. Die per CGM ermittelte Zeit im Zielbereich stieg unter der TPT-Intervention von 52,8 auf 81,1 Prozent, im Standardtherapie-Arm ging sie sogar von 61,2 auf 51,6 Prozent zurück. Im Verum-Arm wurde eine signifikante Gewichtsreduktion von im Mittel 78,5 auf 67,7 kg beobachtet, im Kontroll-Arm blieb das Gewicht bei rund 72 kg konstant. Signifikante Verbesserungen fanden sich mit TPT, aber nicht mit Standardtherapie ferner auch zum Beispiel beim HDL-Cholesterin, den Homa-Indizes für Insulinresistenz und β-Zell-Funktion und beim Blutdruck.

„Unsere Ergebnisse zeigen das Potenzial der Whole-Body-Digital-Twin-Technologie dabei, das konventionelle, medikamentenbasierte Management des Typ-2-Diabetes zu ändern hin zu dem Erreichen einer Remission des Typ-2-Diabetes mit einem Leben frei von Medikamenten“, zeigte Erstautor ­Shamanna sich in New Orleans enthusiastisch. „Der Einfluss des Programms auf die Patientenzufriedenheit, Lebensqualität und Gesamtkosten der Behandlung ist substanziell und bietet bedeutsame Versprechen für die großen Populationen, die weltweit an metabolischen Erkrankungen leiden“, betonte der Diabetologe vom Bangalore Diabetes Centre; er ist gleichzeitig medizinischer Direktor bei Twin Health.

2018 gegründetes Medtech-Unternehmen

Twin Health ist ein 2018 vom heutigen CEO Jahangir Mohammed, einem ausgewiesenem Internet-of-Things-Experten, gegründetes Unternehmen. Joshi ist Chief Scientist bei Twin Health, der Endokrinologe ist unter anderem vormaliger Vorsitzender der südostasiatischen International Diabetes Federation.

Als Medical Advisor des Unternehmens fungiert unter anderem Dr. Francine Kaufman von Senseonics, früher lange Jahre Chief Medical Officer bei Medtronic. Twin Health hat seinen Sitz in Bangalore in Indien und in Mountain View in Kalifornien.

Die Intervention unter Anwendung des digitalen Zwillings führte nach sechs Monaten bei den eingeschlossenen Patienten mit Typ-2-Diabetes tatsächlich zu einer signifikanten HbA1c-Reduktion, Verbesserungen bei verschiedenen metabolischen Parametern sowie bei stattlichen 84 Prozent zu einer Diabetesremission, wie Shamanna et al. schreiben. Sie weisen aber auch darauf hin, dass es noch langfristigere Studien brauche, um diese ersten vielversprechenden Ergebnisse zu untermauern. Die jetzt mit vorläufigen Daten präsentierte Studie will das Unternehmen nach Angaben von Joshi noch mindestens fünf Jahre weiter durchführen.


Autor:
Marcus Sefrin
Chefredaktion DiabetesNews
Schmiedestraße 54
21335 Lüneburg


Erschienen in: DiabetesNews, 2022; 21 (4) Seite 1