Nach dem Koalitionsvertrag und dem Wechsel des Ernährungsministeriums von einer grünen auf eine schwarze Leitung ist es wenig überraschend,dass es Kritik an den ersten 100 Tagen Präventionspolitik der neuen Bundesregierung gibt.

Schon nach 100 Tagen ein erstes Zeugnis auszustellen ist etwas unfair. Bei den Kindern, die dieser Tage eingeschult werden und ihre vier Jahre Grundschule beginnen, würde man sich über ein erstes Zeugnis schon nach den Herbstferien empört beschweren. Anders in der Politik: Als am 13. August die neue Bundesregierung ihre ersten 100 Tage im Amt bewältigt hatte, wurde sie von allen Seiten beurteilt, und zwar oft kritisch.

Auch wenn Legislaturperiode und Grundschulzeit mit rechnerisch 1460 Tagen gleich lang sind, hinkt der Vergleich natürlich: Eine Bundesregierung startet nicht bei Null in ihre Amtszeit, sondern nach einem Wahlkampf, in dem Ideen und Konzepte erarbeitet und den Bürgerinnen und Bürgern vorgestellt wurden. Gerne auch mit einer Liste von Sofortmaßnahmen, die man in den ersten 100 Tagen umzusetzen gedenke, wenn man denn in die Verantwortung gewählt wird. Noch dazu ist ein Regierungsamt nur sehr selten der Beginn einer Politik-Karriere, sondern die Krönung - entsprechend erfahren und zielstrebig sollten die Akteure sein. Und natürlich ist Politik ein schnelllebiges Geschäft, in dem nie endende Nachrichten-Ticker leicht den Eindruck erwecken, dass Veränderungen in Nullkommanix normal sind.

Das Wissenschaftsbündnis Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) hat sich in den Reigen der Bilanz-Zieher eingereiht und die ersten 100 Tage der schwarz-roten Koalition aus Sicht der Präventionspolitik bewertet. Mutlos sei diese, so die Organisation, der federführend die Deutsche Diabetes Gesellschaft angehört, DANK spricht von einer ernüchternden Bilanz. Politisch sei bislang viel zu wenig in Bewegung gekommen. Insbesondere bei der dringend benötigten Verhältnisprävention nichtübertragbarer Erkrankungen fehle aus Sicht der Verbände weiterhin der politische Gestaltungswille. "Nach 100 Tagen verfestigt sich der Eindruck, dass zwar gern und viel über Prävention gesprochen wird, politisch aber noch immer keine oder die falschen Schlüsse gezogen werden", stellte Barbara Bitzer, DANK-Sprecherin und DDG-Geschäftsführerin, fest.

Dritte Halbzeit für die Prävention
Nicht nur auf dem Feld der Ernährungspolitik scheint der neue Bundesminister Alois Rainer auf einer anderen Seite als die Diabetologie zu stehen. Auch auf dem Fußballplatz sind sich beide Seiten schon gegenüber gestanden: Auf dem gemeinsamen Mannschaftsfoto des Duells 2018 ist der CSU-Politiker neben Christoph Daum zu sehen, der den FC Diabetologie seit 2015 bis zu seinem Tod im letzten Jahr ehrenamtlich trainiert hat. Rainer sitzt seit 2013 im Bundestag und war bis zu seiner Ernennung zum Minister im Kader des FC Bundestag, ein Trikot mit der Rückennummer 9 der seit 1961 bestehenden Fußballmannschaft aus Parlamentariern hängt jetzt gerahmt in seinem Ministerbüro. 2015 stürmte Rainer gar unter den strengen Augen von Gast-Trainer Felix Magath für die Bundestags-Elf.. Das ausgewählte Abgeordneten-Team ist Lieblingsgegner des FC Diabetologie, eines mitunter hochkarätig besetzten Charity-Teams aus Diabetesexperten sowie der Sache zugeneigten Prominenten. Unter Coach Daum spielten schon Thomas Helmer und Philipp Lahm für den FC Diabetologie. Bei den Begegnungen der Mannschaft steht der Fußball im Mittelpunkt, die sportliche Betätigung ist aber auch Mittel zum Zweck: Bei der dritten Halbzeit, die nach jedem Spiel stattfindet, haben die Spieler und ihre Unterstützer Gelegenheit, sich mit den Politikern über das Thema Diabetes und Prävention zu unterhalten und diese für das Thema zu sensibilisieren Zuletzt spielten die beiden Auswahlmannschaften im Juni 2024 in Berlin gegeneinander, das Ergebnis war ein 4:1 für das Diabetes-Team. Zu dem gehören nicht nur Ärzte und Beraterinnen wie der DiabetesDE-Vorsitzende Dr. Jens Kröger oder Ulrike Thurm, sondern auch immer wieder Sportstars mit Diabetes wie die deutsche Nationalspielerin Sandra Starke oder der mehrfache deutsche Meister im 200-Meter-Sprint Daniel Schnelting. Das nächste Match von FC Bundestag und FC Diabetologie ist für den 9. September 2025 in Berlin angesetzt.

Das Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat (BMLEH) hat selbst eine 100-Tage-Bilanz gezogen, böse Zungen behaupten, weil die Themen des Hauses im offiziellen Überblick der Bundesregierung über die ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit nur mit einer dürren Erwähnung des Wegfalls der Stoffstrombilanz vorgekommen sind. Schon der Titel des BMLEH-Berichts gibt eine Richtung vor, "100 Tage Kurswechsel: Ernährung sichern, Landwirtschaft stärken, Heimat gestalten" ist er überschrieben. Rainers Ministerium berichtet darin über Agrarförderung, Bürokratieabbau und Exportstrategien, verliert aber kein einziges Wort zu evidenzbasierter Präventions- und Ernährungspolitik, prangert DANK an. Trotz der klaren Datenlage zur Bedeutung ungesunder Ernährung für die Krankheitslast in Deutschland würden konkrete Vorschläge für eine gesundheitsförderliche Ernährungsumgebung fehlen. "Während andere Länder längst handeln, bleibt Bundesminister Alois Rainer uns eine Antwort schuldig, wie gesunde Ernährungsumgebungen geschaffen werden können, die den Menschen in Deutschland den Zugang zu gesunder Ernährung erleichtern. Die kommenden vier Jahre können entscheidend sein, um Kosten einzudämmen und gesunde Lebensjahre zu sichern", appelliert Bitzer.

Plakativer kommt die Kritik der Verbraucherorganisation Foodwatch daher. Sie bezeichnete Rainer als "personifizierte Ambitionslosigkeit des Koalitionsvertrags".

Klare Zahlen, keine Konsequenzen

Mit erschreckend hohen Zahlen will DANK den Ernst der Lage verdeutlichen: Mehr als die Hälfte der Deutschen ist übergewichtig. Jeder fünfte Erwachsene ist sogar adipös, bei Menschen mit niedriger Bildung gar fast jeder Dritte. Laut Prognosen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wird Adipositas in Deutschland bis 2050 rund 11 Prozent der Gesundheitsausgaben verursachen. Schon heute leben mehr als neun Millionen Menschen in Deutschland mit Diabetes – bis 2040 werden mindestens zwölf Millionen Betroffene erwartet. Bereits heute kostet Diabetes rund 30 Milliarden Euro pro Jahr, betont DANK.

Amtliche Daten rufen nach Verhältnisprävention

Die Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring des Robert Koch-Instituts hat unlängst klar Stellung bezogen: "Der kontinuierliche Anstieg der Adipositasprävalenz zwischen 2003 und 2023 zeigt, dass bisherige Maßnahmen zur Prävention der Adipositasentstehung unzureichend waren. Es ist daher zwingend notwendig, nicht nur eine Verhaltensänderung des Individuums zu adressieren, sondern auch bevölkerungsweite Maßnahmen zur Verhältnisprävention umzusetzen", schlussfolgern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Bundesinstituts in einer Arbeit, die Daten der telefonischen Gesundheitssurveys und der Befragungsstudie Gesundheit in Deutschland aktuell des Robert Koch-Instituts zur Verbreitung von Adipositas und Rauchen bei Erwachsenen analysiert hat. Zwischen 2003 und 2023 stieg danach die Adipositasprävalenz von 12,2 Prozent auf 19,7 Prozent über alle Alters-, Geschlechts- und Bildungsgruppen hinweg an. Die Rauchprävalenz sank von 32,1 auf 28,8 Prozent, vor allem bei Jüngeren und in der hohen Bildungsgruppe, stagnierte jedoch zuletzt.

Krankheitsstand als Resultat politischer Untätigkeit

DANK argumentiert mehr und mehr mit Wirtschaftsdaten. Das Bündnis verweist auf die stetig steigenden Ausgaben im Gesundheitssystem und die immense Verschuldung des Bundeshaushaltes, gleichzeitig sei Lebenserwartung in Deutschland im europäischen Vergleich niedriger. In ihrer 100-Tage-Bilanz der neuen Bundesregierung weist DANK darauf hin, dass die Zahl der Krankheitstage in Deutschland auf Rekordniveau liegt. AOK-Versicherte waren 2023 im Schnitt fast 24 Tage krank, Langzeitfälle von mehr als sechs Wochen, oft auch in Verbindung mit chronischen Erkrankungen, würden 39 Prozent des gesamten Arbeitsausfallvolumens ausmachen. "Das bedeutet großes Leid für die Betroffenen und eine enorme Belastung für Betriebe, Krankenkassen und das Gesundheitssystem. Das ist weder Selbstverschulden noch "Schicksal", sondern die Folge jahrzehntelanger politischer Untätigkeit bei der Verhältnisprävention", erklärt Bitzer.

Laut einer Analyse der Arbeitsunfähigkeitsmeldungen der rund 15 Millionen erwerbstätigen AOK-Mitglieder ist in den letzten zehn Jahren vor allem die Anzahl von Arbeitsunfähigkeitstagen aufgrund von psychischen Erkrankungen gestiegen, gefolgt von Atemwegserkrankungen und Muskel-Skelett-Erkrankungen. Einen Rückgang gab es von 2014 bis 2023 vor allem bei den Verdauungserkrankungen mit einem Minus von 7,0 Prozent und den Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit –6,8 Prozent.

Evidenzbasierte Maßnahmen

Es fehlt laut DANK an evidenzbasierten Maßnahmen, um gegen krankmachende Verhältnisse anzugehen. Die Organisation nennt als Beispiel eine Herstellerabgabe auf stark zuckergesüßte Getränke, Werbebeschränkungen für Ungesundes, wenn sich die Produkte an Kinder richten, mindestens eine Stunde Bewegung pro Tag in Kita und Schule oder eine verpflichtende Nährwertkennzeichnung mit dem Nutri-Score. Diese Maßnahmen würden in anderen Ländern bereits Wirkung zeigen, hierzulande aber ungenutzt bleiben, kritisiert DANK. Auch ein Verbot von Einweg-E-Zigaretten und Aromen und die bundesweite Einführung der Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für Schulernährung steht auf der Forderungsliste.

"Seit Jahren erleben wir eine bunte Projektitis in der Prävention: Es gibt immer neue Modellvorhaben, Appelle an die Freiwilligkeit sowie den Wunsch nach Aufklärung und mehr Bildung. Eine dringend notwendige Kurskorrektur blieb jedoch bisher aus. Die Politik diskutiert über die Rente mit 70, tut aber zu wenig dafür, damit die Menschen gesund altern können. Das greift zu kurz", kritisiert Bitzer.

Folgenlose Vorschusslorbeeren

Ein Blick zurück auf die Anfänge der Vorgänger-Regierung kann zugleich beruhigen und Sorge bereiten: Für den Koalitionsvertrag und die darin enthaltene Ankündigung von Einschränkungen für Werbung, die sich an Kinder richtet und ungesunde Lebensmittel bewirbt, hatte DANK viel Applaus gespendet. Als das Ernährungsministerium unter dem damaligen Minister Cem Özdemir dann einige Zeit brauchte, um einen entsprechenden Gesetzesentwurf zu erstellen, übte die Organisation Kritik an dieser Verzögerung. Der im Februar 2023 vorgestellte Referentenentwurf entfachte die Liebe zwischen DANK und dem Ministerium dann neu, dass aus dem erfreulich progressivem Entwurf dann aber kein im Bundestag verabschiedetes Gesetz wurde, prangerte das Bündnis danach immer wieder und mit wachsender Vehemenz an. Die Kritik richtete sich damals gegen die Blockierer der präventionsfreundlichen Werberegulierung innerhalb der zunehmend zerstrittenen Ampelkoalition.

An diesem Drama um die Werbung für ungesunde Kinderlebensmittel sieht man, dass auch klar formulierte Absichten im Koalitionsvertrag nicht automatisch in Politik umgesetzt werden. Bleibt abzuwarten, ob die neue Bundesregierung umgekehrt ohne deutlich geäußerte Ambitionen relevante Fortschritte im Sinne der Verhältnisprävention zu Wege bringt.


Autor:
© privat
Marcus Sefrin
Redaktion MedTriX GmbH
Lüneburg


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2025; 37 (4) Seite 6-8