Eine neue JAMA-Studie liefert praxisrelevante Evidenz für die Risikostratifizierung: Nüchternblutzucker, Alter, Geschlecht und BMI erlauben eine zuverlässige Vorhersage des 10-Jahres-Diabetesrisikos. Schon Werte im oberen Normbereich können die Erkrankungswahrscheinlichkeit deutlich erhöhen.
Eine aktuelle Analyse im JAMA Network Open verdeutlicht: Das 10-Jahres-Risiko für die Manifestation eines Diabetes mellitus kann bereits mit vier Routineparametern – Nüchternblutzucker, Alter, Geschlecht und Body-Mass-Index (BMI) – mit hoher Treffsicherheit abgeschätzt werden. Schon geringfügige Abweichungen im oberen Normbereich des Nüchternblutzuckers sowie Übergewicht sind mit einem signifikant erhöhten Erkrankungsrisiko assoziiert. [1]
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) betont, dass Risikofaktoren nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel berücksichtigt werden müssen. Die Ergebnisse unterstützen die langjährige Forderung nach Stärkung der Früherkennung und nach Ausbau strukturierter Präventionsangebote. Eine präzise Risikostratifizierung erlaubt gezieltere Interventionen und erleichtert die Evaluation von Präventionsprogrammen.
Studiendesign und Ergebnisse
Im Rahmen des Rochester Epidemiology Project wurden knapp 45.000 Erwachsene im Alter von 18 bis 65 Jahren retrospektiv ausgewertet. Nach im Median sieben Jahren entwickelten 8,6 % einen Diabetes mellitus; im Zehn-Jahres-Verlauf betrug das kumulative Risiko 12,8 %. Bereits Nüchternblutzuckerwerte von 95–99 mg/dl (5,3–5,5 mmol/l) waren mit einer Risikoerhöhung verbunden. In Kombination mit Übergewicht verdoppelte sich die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung, bei höheren Werten kam es sogar zu einer Vervierfachung.
„Die Ergebnisse zeigen eindrucksvoll, wie wichtig der Nüchternblutzucker für die Risikoabschätzung ist“, erklärt DDG-Präsidentin Professorin Dr. Julia Szendrödi (Heidelberg). „Auch Werte im Bereich des Prädiabetes müssen ernst genommen werden. Durch die Kombination mit Alter, Geschlecht und BMI wird das individuelle Risiko noch klarer sichtbar – so können wir Menschen gezielt identifizieren, die besonders gefährdet sind.“
Klinische Implikationen
Die Autor:innen entwickelten ein Nomogramm zur 10-Jahres-Risikoberechnung. Damit steht ein niedrigschwelliges Instrument für die hausärztliche Versorgung zur Verfügung, das Hochrisikopatient:innen bereits bei noch normnahen Blutzuckerwerten detektieren kann. „Das eröffnet Chancen für eine wirksame Prävention“, betont DDG-Vizepräsident Dr. med. Tobias Wiesner (Leipzig). „Wir können betroffene Menschen früher identifizieren und mit ihnen über Veränderungen im Lebensstil sprechen – etwa zu Ernährung, Bewegung und Gewichtskontrolle.“
Einschränkend ist zu berücksichtigen, dass die Blutzuckerbestimmung jeweils nur einmal erfolgte und die Kohorte regional auf die US-amerikanische Bevölkerung begrenzt war. Die Generalisierbarkeit auf andere Populationen bedarf weiterer Untersuchungen.
Risikokategorien des Nomogramms:
- Niedriges Risiko (~5 %): Frauen < 30 J., BMI 18,5–24,9 kg/m², Nüchternblutzucker 80–94 mg/dl (4,4–5,2 mmol/l)
- Leicht erhöht (~12 %): Nüchternblutzucker 95–99 mg/dl (5,3–5,5 mmol/l) oder BMI 25–29,9 kg/m²
- Mittleres Risiko (~26 %): BMI 30–34,9 kg/m² + Nüchternblutzucker 100–104 mg/dl (5,6–5,8 mmol/l)
- Hohes Risiko (bis 56 %): BMI ≥ 40 kg/m² + Nüchternblutzucker 120–125 mg/dl (6,7–6,9 mmol/l), v. a. Männer ≥ 60 J.
Konsequenzen für Versorgung und Gesundheitspolitik
Für die Primärversorgung eröffnet sich damit die Möglichkeit, Risikopatient:innen mit minimalem Aufwand zu identifizieren und in weiterführende Strukturen (diabetologische Schwerpunktpraxen, Schulungsprogramme) zu überleiten. Angesichts steigender Inzidenzen gewinnt eine qualifizierte Beratung an Bedeutung: strukturierte Aufklärung, Begleitung und Interventionen senken das individuelle Risiko messbar.
Gleichzeitig verweist die DDG auf die Notwendigkeit politischer Rahmenbedingungen. „Wir brauchen auch politische Rahmenbedingungen, die die gesunde Wahl zur einfachen Wahl machen“, so DDG-Geschäftsführerin Barbara Bitzer. Gefordert werden u. a. eine dauerhafte Mehrwertsteuerbefreiung für Obst und Gemüse, eine Herstellerabgabe auf zuckergesüßte Getränke, verbindliche Nutri-Score-Kennzeichnung, eine Stärkung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes im BMG sowie der Ausbau einer „Prävention auf Rezept“ für Hochrisikogruppen. [2]
von Redadktion diabetologie-online
mit Materialien der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG)
